Winterlingen

Winterlinger Mordprozess: Er wusste, was er tat

25.10.2018

von Michael Würz

Besteht beim Angeklagten im Winterlinger Mordprozess eingeschränkte Schuldfähigkeit? Nein, erklärte ein psychiatrischer Gutachter am Donnerstag.

Winterlinger Mordprozess: Er wusste, was er tat

© Michael Würz/Archiv

Ein Rettungswagen verlässt am 1. April den Tatort in Winterlingen – die Rettungskräfte konnten für das Opfer nichts mehr tun. Heute sagte die Notärztin vor dem Hechinger Landgericht aus, die vergebens um das Leben der Frau gekämpft hatte.

Der Sachverständige, ein Arzt und forensischer Psychiater aus Tübingen, attestierte dem Angeklagten einen Persönlichkeitskonflikt. Demnach leide der Mann, der gestanden hat, am 1. April seine Frau erschossen zu haben, unter einer Art inneren Zerrissenheit. Denn, so erklärte der Gutachter, der mehrmals mit dem Festgenommenen gesprochen hatte: „Einerseits sind da seine Herkunft, seine Familie, patriarchalische Strukturen. Andererseits strebt er an, mitteleuropäische Werte zu leben.“

Zwischen den Kulturen

Der Angeklagte sei stets hin- und hergerissen gewesen, hatte Sorge, den unterschiedlichen Ansprüchen nicht zu genügen. Diesen Grundkonflikt sieht der Arzt bislang nicht erschöpfend aufgearbeitet. Eine schwere Depression hingegen habe der Angeklagte mithilfe einer Therapeutin in den Griff bekommen. Auch geht der Sachverständige nicht davon aus, dass der Angeklagte akut suizidgefährdet ist, wenngleich dieser nun „vor dem Scherbenhaufen seiner Biographie“ stehe. Der Mann sei keinesfalls ein empathieloser Gewalttäter, befand der Sachverständige. Im Gegenteil: Dass seine Familie nach der Tat erst recht zerbrochen ist, er nun nicht mehr der Vater sein kann, der er wohl sein wollte – „das bewegt ihn, das trifft ihn“.

Die Depression gilt als geheilt

Bereits 2010 habe der Angeklagte unter depressiven Episoden gelitten, 2015 dann begab er sich in Therapie. „Er war niedergeschlagen, es gab Suizidgedanken“, erklärte der Gutachter. Der Angeklagte führte die Therapie planmäßig zu Ende, lediglich das Angebot seiner Therapeutin, Nachsorgetermine in Anspruch zu nehmen, ignorierte er. Seine zwischenzeitlich schwere Depression – im Februar 2018 galt sie als weitgehend geheilt. Der Experte geht in seinem Gutachten davon aus, dass bereits seit Sommer 2017 keine krankhafte seelische Beeinträchtigung mehr bei dem Angeklagten vorlag.

Wenngleich den Mann zahlreiche Umstände geplagt hätten: die Konflikte in seiner Ehe, seine Arbeitslosigkeit. „Das verwischt sich alles.“ Dass der Angeklagte bei seiner Tat am 1. April jedoch in einem affektiven Ausnahmezustand gehandelt hat, dass er nur beeinträchtigt schuldfähig sein könnte – das schloss der Gutachter ganz entschieden aus. So entschieden, dass der Vorsitzende Richter Dr. Hannes Breucker zwischenzeitlich dem Verteidiger des Täters das Wort erteilte: „Ihn reißt es hier schier vom Sitz.“

Wusste der Angeklagte, was er tat?

Rechtsanwalt Carsten Kühn, der den Angeklagten vertritt, hinterfragte das Gutachten kritisch, wollte wissen, ob es mit dem tatsächlichen Tatablauf in Einklang zu bringen ist. Und ob der Mann nicht doch in einem erheblichen Ausnahmezustand gehandelt hatte. Etwa, weil die Tochter sich vor die Mutter gestellt habe, um sie zu schützen, die Mutter dann – folgt man den Ausführungen des Angeklagten – eine Grimasse geschnitten haben soll. Der Sachverständige allerdings blieb bei seiner Schlussfolgerung, wonach der Täter wusste, was er tat.

Das bedeutet für den Angeklagten: Er ist in vollem Umfang schuldfähig. Daran ändert auch der Alkohol – selbstgebrannter Schnaps – nichts, dem der Mann am Tattag reichlich zugesprochen hatte. Als aufschlussreich erwiesen sich heute auch die Aussagen der Notärztin und der Rechtsmedizinerin – demnach waren zwei der fünf Schüsse, die das Opfer getroffen hatten, tödlich, jeder für sich. „Als wir angekommen sind, hatte die Frau bereits eine Null-Linie auf dem EKG“, berichtete die Notärztin von ihrem dramatischen Einsatz. Die Retter versuchten, das Opfer wiederzubeleben – vergebens.

Nichte des Täters sagt aus

Die Verteidiger des Angeklagten brachten heute zudem eine bislang unbeachtete Zeugin ins Spiel, eine Nichte des Täters. Die junge Frau zeichnete das Bild eines liebevollen Onkels, der „uns Kinder immer mit auf den Fußballplatz oder in den Europa-Park genommen hat“. Die Eheprobleme des Angeklagten und des späteren Opfers habe sie stets nur am Rande mitbekommen. Ihre Ausführungen allerdings weckten bei Richter Breucker spürbare Zweifel: „Was Sie hier aussagen, muss auch stimmen!“

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