Balingen

Urteil gegen Pädagogen: Richterin am Balinger Amtsgericht sieht sexuelle Belästigung bestätigt

07.05.2024

Von Nicole Leukhardt

Urteil gegen Pädagogen: Richterin am Balinger Amtsgericht sieht sexuelle Belästigung bestätigt

© Nicole Leukhardt

Die Aussagen der betroffenen Mädchen und die Plädoyers fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

90 Tagessätze à 120 Euro - diese Geldstrafe verhängte das Balinger Amtsgericht am Dienstag nach drei Prozesstagen gegen einen Lehrer, dem sexuelle Belästigung zweier Schülerinnen vorgeworfen worden war. „Ich glaube den Mädchen“, erklärte die Richterin in ihrer Urteilsbegründung.

Der angeklagte Pädagoge nahm das Urteil am späteren Dienstagnachmittag regungslos, nahezu schockstarr auf. Er hatte gleich zu Beginn des Prozesses vehement abgestritten, sich den Schülerinnen bewusst und sexuell motiviert genähert zu haben.

Am dritten und letzten Verhandlungstag sollten weitere Mädchen aus der ehemaligen sechsten Klasse schildern, wie der Lehrer sich im Unterricht verhalten hat. Vieles hatte die erste Zeugin von anderen gehört, nicht selbst beobachtet. Insbesondere eine der Mitschülerinnen „hat erzählt, dass er richtig viel gemacht hat“, schilderte sie. Allerdings: „Das glaubt ihr eigentlich keiner, denn sie hat es sehr extrem beschrieben“, fügte sie an. Der Lehrer soll während des Unterrichts jener betroffenen Schülerin erst die Hand auf die Schulter gelegt, sie dann auf die Brust geschoben und dort kreisförmig bewegt haben, so der Vorwurf. „Keiner hat was gesehen, warum sollte er sowas machen?“, fragte sie – rhetorisch, freilich.

„Bitte lassen Sie das“

Ob er ihr selbst auch zu nahe gekommen sei, wollte die Richterin von der Zeugin wissen. An der Schulter habe er sie berührt, antwortete sie. An der Behauptung, er habe sie mit beiden Armen von hinten umarmt und am Bauch berührt, die sie bei der polizeilichen Vernehmung geäußert hatte, wollte sie am Dienstag nicht festhalten, „eher aus Versehen an der Seite gestreift“ habe der Lehrer sie einmal. Allerdings: Den Satz „bitte lassen Sie das“, den die Nebensitzerin dem Pädagogen gegenüber geäußert haben soll, habe sie gehört. Was dem vorangegangen sei, jedoch nicht mitbekommen.

Einig waren sich die Zeuginnen darüber, dass die Klasse öfter mal laut und chaotisch gewesen sei. Dass der Lehrer hätte laut werden müssen, „manchmal gerechtfertigt, manchmal auch ein bisschen übertrieben“, wie eine erzählte. Dennoch sei er ein guter Lehrer gewesen, der den Stoff gut habe vermitteln können. „Als sie mir erzählte, dass er sie begrapscht hat, bin ich erschrocken, das kam ganz unerwartet“, erinnerte sich die zweite Zeugin daran, wie sie von den Vorfällen mitbekommen hat. Auch sie erinnerte sich daran, dass die Mitschülerin an jenem Tag mitten im Unterricht laut gesagt habe, der Lehrer solle „das lassen“. Gesehen habe jedoch auch sie nichts. Aus heutiger Sicht sei sie sich auch nicht mehr so sicher, ob sie die Vorwürfe glauben könne.

„Ich würde es ihm nicht zutrauen“

Das dritte Mädchen schließlich schilderte, sie habe erzählt bekommen, der Lehrer habe eine Mitschülerin an der Brust massiert. Der Lehrer habe dabei die Hand von hinten über die Schulter nach vorne geschoben. Auch sie gab an, „ich konnte es mir nicht vorstellen, weil ich es ihm nicht zutrauen würde“. Sie glaube den beiden Mitschülerinnen „nicht wirklich“. Die vierte Schülerin schließlich, die am Dienstag gehört wurde, hatte zur fraglichen Zeit zwar direkt neben dem betroffenen Mädchen gesessen, „aber nichts gesehen oder gehört“.

Aussagen, die auch dem Tübinger Regierungspräsidium vorgelegen haben. Denn als Dienstaufsichtsbehörde war hier ein Regierungsdirektor in seiner Funktion als Disziplinarreferent für den Vorfall zuständig. Man habe nach Bekanntwerden der Vorwürfe „sehr schnell die Vernehmung des Angeklagten vorgenommen“, schilderte der Zeuge am Dienstag. Aus der sich ihm darbietenden Sach- und Beweislage habe sich „hochwahrscheinlich keine sexuelle Belästigung“ ableiten lassen. Auch habe er das persönliche Gespräch mit den Schülerinnen gesucht und sie über ihre Eltern nach Tübingen geladen. „Es war die Vorstufe zu einem Disziplinarverfahren“, erklärte er. Eine Erscheinungspflicht habe es für die Mädchen nicht gegeben. Vier von fünf waren der Einladung gefolgt, die Hauptbelastungszeugin habe per anwaltlichem Schriftsatz erklären lassen, dass sie nicht kommen werde.

„Übermassive Vorwürfe von Elternseite“

Aufgrund der Entwicklung der Aussagen habe er erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit gehabt, so dass ein Anfangsverdacht nicht hinreichend begründet gewesen sei, schilderte er. Konkret: „Dieser Lehrer hat in der Klasse erlebt, dass fachliche Anforderungen nicht erfüllt wurden. Es gab Spannungen in der Klasse, die Lage war für ihn nicht beherrschbar. Sexuelle Handlungen in dieser Situation sind wenig plausibel, noch dazu vor versammelter Mannschaft“, so der Zeuge. Zudem habe er in der Aussage der federführenden Familie „Implausibilitäten“ und „übermassive Vorwürfe“ ausgemacht. Hätte er sich den Kindern genähert, so sei dies in pädagogischer und didaktischer Motivation geschehen. „Erziehung und Bildung ist ohne persönliche Beziehung nicht möglich“, begründete er. Wenn solche Nähe sexuell motiviert sei, „dann wird diese Situation missbraucht“. Dafür habe seine Behörde allerdings keinen Ansatz gesehen.

Immerhin sei der Pädagoge bislang völlig untadelig gewesen. „In dienstlichen Beurteilungen wird sein Umgang mit Schülern als sehr gut und sehr vertrauensvoll beschrieben.“ Er sei ein sehr beliebter Lehrer gewesen, dessen zuwendende Art, Aufrichtigkeit und Verbindlichkeit sehr geschätzt worden sei. „Zuwendend im Sinn des Bildungs- und Erziehungsauftrags, als mentale, nicht körperliche Nähe“, wie er anfügte.

Aus Scham geschwiegen

Beschreibungen, die die Mutter der Hauptbelastungszeugin wenig nachvollziehen konnte. Eine Wesensveränderung habe sie bei ihrer Tochter seit längerem bemerkt, „eines Tages kam sie dann heim und sagte, wir müssen reden und die Tür dabei zumachen“, schilderte sie. Der Lehrer schreie die Schüler an, sie sollten „die Schnauze halten“, komme ganz nah zu ihnen, „Gesicht an Gesicht“, habe die Tochter dabei erzählt. Erst später habe sie schließlich von ihrem Kind erfahren, „dass es auch Berührungen gab, sie ist vor mir regelrecht zusammengebrochen“, schilderte die Mutter unter Tränen. Ihr Kind habe schlicht aus Scham so lange geschwiegen.

Dass weder die Klassenlehrerin, noch die Rektorin oder das Regierungspräsidium in ihren Augen richtig gehandelt hätten, bedeute für sie „dass man es vertuschen wollte“. Sie hätten deshalb Anzeige erstattet. Dass sie auf andere Eltern eingewirkt hätte, es ihrer Familie gleich zu tun, wollte sie so nicht bestätigen. „Wir haben schon geäußert, dass es schön wäre, wenn auch andere Anzeige erstatten würden“, massiv geworden seien sie aber nicht. Ihre Tochter habe seit den Vorfällen Panikattacken, hyperventiliere, leide körperlich und gesundheitlich unter den Folgen der Vorkommnisse und habe schließlich die Schule gewechselt.

Nachdem die Plädoyers unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehalten wurden, verkündete die Richterin am späten Nachmittag schließlich das Urteil: Mit einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 120 Euro bleibt der Angeklagte, sollte er den Richterspruch akzeptieren, ganz knapp unter einem Eintrag ins Führungszeugnis, darf sich als „nicht vorbestraft“ bezeichnen.

„Die Zeugin hat hier nicht geschauspielert“

„Weil hier Aussage gegen Aussage stand, mussten wir mit einer gewissen Wissenschaftlichkeit herangehen“, begründete die Richterin. „Um es vorneweg zu nehmen: Ich glaube den Mädchen“, führte sie aus. Sie habe natürlich überlegt, ob bewusste Falschaussagen vorgelegen haben könnten. „Die Zeugin hat sich bei ihrer Aussage Mühe gegeben, aber immer wenn es um das Kerngeschehen ging, wurde sie emotional, ich traue ihr nicht zu, dass sie das hier geschauspielert hat“, betonte sie weiter. Dass man den Lehrer habe loswerden wollen, „sehe ich ebenfalls nicht“. Das Mädchen habe sich geschämt, „weil sie wusste, wenn sie bestimmte Sachen erzählt, dann ist Alarm“, so die Richterin. Kurzum: „Ich sehe keine Anhaltspunkte für Falschaussagen und schließe aus, dass diese Berührungen Zufall waren.“ Dass Lehrerin, Schulleiterin und Regierungspräsidium von Anfang an „gar nichts glauben wollten“, das Intervenieren der Eltern noch dazu als „unverschämt“ bezeichneten, sei ein Verhalten, das sie am Schulsystem zweifeln lasse, schob sie nach.

„Ich weiß, welche Folgen es hat, wenn das Urteil einmal in der Welt ist, so es rechtskräftig wird“, betonte sie. Dass eines der beiden Mädchen aber unter erheblichen Nachwirkungen zu leiden habe, sei als strafschärfend zu sehen. Aus 50 und 70 Tagessätzen für die Einzeltaten bildete sie ein Gesamturteil von besagten 90 Tagessätzen. Innerhalb einer Woche kann der Angeklagte in Berufung gehen oder Revision einlegen.

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