Balingen

Ein Diakon als Freund und Helfer: Polizeidekan Dr. Hubert Liebhardt spricht über seine Berufung

28.04.2024

Von Nicole Leukhardt

Ein Diakon als Freund und Helfer: Polizeidekan Dr. Hubert Liebhardt spricht über seine Berufung

© Angelika Kamlage

Der Landespolizeidekan Dr. Hubert Liebhardt spricht über seine seelsorgerische Aufgabe innerhalb der Polizei.

Er hört sich an, was andere sich von der Seele reden müssen: Dr. Hubert Liebhardt ist Polizeidekan. Was er in seinem Arbeitsalltag erlebt und wie er selbst mit Tod und Trauer umgeht – das Porträt eines Seelsorgers, dem der Beruf zur Berufung geworden ist.

Er lerne in seinem Alltag ehrenwerte Persönlichkeiten kennen, die sich durch ihre Liebe zum Beruf und zur Demokratie auszeichneten. Wer Dr. Hubert Liebhardt über seine Arbeit reden hört, spürt schnell, dass sie mehr als reiner Broterwerb ist. Der 52-Jährige wurde vor wenigen Tagen zum Landespolizeidekan ernannt – ein Beruf, der von außen wenig gesehen, im Inneren der Organisation aber sehr geschätzt wird.

Seine Heimat kann Liebhardt nicht leugnen: Der 1971 im Oberbayrischen Haag geborene Seelsorger rollt das „r“, wenn er von seinem Berufsalltag erzählt. Er tut es diesmal im Auto, in seinem mobilen Büro, „denn mein Fahraufkommen ist ziemlich hoch“, schildert er. Im Hintergrund ist das Ticken des Blinkers zu hören.

Vier Präsidien und eine Hochschule

30.000 Kilometer im Jahr lege er zurück. Sein Einsatzgebiet ist groß. „Ich bin zuständig für die Präsidien in Reutlingen, Ravensburg, Konstanz und Ulm, außerdem für die Polizeihochschule.“ Und damit auch für die Beamten im Zollernalbkreis und im Kreis Sigmaringen. 6000 Polizistinnen und Polizisten gehören zu seiner ganz besonderen „Gemeinde“. 18 Seelsorgerinnen und Seelsorger sind insgesamt in Baden-Württemberg zuständig, psychologisch und supervisorisch fundiert ausgebildet. In Baden sind es Teilzeit-, in Württemberg Vollzeitstellen.

Dass er die Seelsorge bei der Polizei übernommen hat, verdankt der ausgebildete Diakon im Grunde seiner Frau: „Sie hatte ein Berufsangebot in Konstanz, ich habe mich in der Nähe umgesehen“, erzählt er. Der zweifache Familienvater bewarb sich auf die Stelle als Polizeiseelsorger und wurde 2013 von der Diözese Rottenburg-Stuttgart entsandt.

„Ich arbeite heute lageorientiert“

Für sein Arbeiten bedeutete dies einen Paradigmenwechsel. „Ich war davor an der Uni in der Forschung tätig. Das war ein sehr planbares, prozessorientiertes Arbeiten, man wusste immer sehr konkret, was auf einen zukommt.“ Doch er habe gespürt, dass ihm die Arbeit mit Menschen fehle. „Der Spagat zwischen Forschung und Seelsorge war zu groß“, beschreibt er.

Mit dem Beginn seiner seelsorgerischen Aufgabe bei der Polizei im Jahr 2013 endete diese Planbarkeit zu einem großen Teil. „Ich arbeite heute lageorientiert, das habe ich von der Polizei adaptiert“, sagt Hubert Liebhardt und lacht. Es gehöre zu seinem Beruf dazu, da zu sein, wenn jemand sich hilfesuchend an ihn wendet. „Ich bin 24/7 erreichbar, manchmal findet ein Erstgespräch sehr spontan statt“, erzählt er.

Wenn es die Lage allerdings zulässt, zieht sich der Landespolizeidekan montags an seinen Schreibtisch in Ulm zurück und widmet sich der notwendigen Büroarbeit. „Dienstags und mittwochs sind Seminartage, bei denen wir Gruppenveranstaltungen anbieten, Fälle gemeinsam aufarbeiten zum Beispiel“, erzählt er weiter. Donnerstags unterrichtet der Dekan Berufsethik in Biberach. „Am Freitag lege ich den Schwerpunkt auf Beratungsgespräche.“

„Sie nehmen den Verlust ihrer Autorität wahr“

Ruhige Zeiten, gar Flauten, kennt Liebhardt nicht. „Es sind kontinuierliche Anforderungen da“, resümiert er. Wie Richter, Lehrer oder Ärzte erlebten auch Polizisten eine Veränderung in der Gesellschaft. „Sie nehmen den Verlust ihrer Autorität wahr“, formuliert Dr. Liebhardt, „das Phänomen beschäftigt alle“. Auch innerhalb der Polizei sei eine Zunahme des Beratungsaufwands spürbar. Dabei seien die, die sich für den Beruf entscheiden, gut auf ihre Arbeit vorbereitet. „Wer zur Polizei geht und nach der Ausbildung bleibt, liebt diesen Beruf, weiß, worauf er sich einlässt“, sagt Liebhardt. Allerdings bedeute das kognitive Wissen um die Konfrontation mit Tod und Trauer noch nicht, „dass sie wissen, was es mit der Seele macht. Das kann niemand abschätzen oder sich vorbereiten“.

Dass es heute nicht mehr als Schwäche gesehen werde, sich Hilfe zu suchen, sei dagegen eine sehr positive Entwicklung. „Es ist einerseits eine Coping-Strategie, nach außen hin stabil zu bleiben. Von Polizisten erwartet die Gesellschaft, dass sie die Dinge im Griff haben, souverän sind, stark sind. Es braucht diese Haltung, um Sicherheit zu demonstrieren“, erklärt der Seelsorger. Wer sich aber in geschütztem Rahmen nicht öffnen, nicht über Herausforderungen reden könne, „verschließt sich letztlich der Aufarbeitung“.

Wer stark sein muss, tut sich schwer, Hilfe anzunehmen

Seine Arbeit sei dabei keineswegs auf dienstliche Vorkommnisse beschränkt. „Wir unterstützen die Polizisten bei allen Lebensfragen, bei Konflikten, in Krisen. Manchmal fahre ich zu dem Betroffenen nach Hause, manchmal kommt er zu mir nach Ulm. Und manchmal weiß ich am Telefon auch weder Dienststelle noch Dienstrang, nur den Vornamen des Hilfesuchenden“, berichtet er. Denn sich an den Seelsorger zu wenden, koste viele Überwindung. „Wenn Sie es gewohnt sind, der Starke zu sein, ist es schwer, sich einzugestehen, dass Sie Hilfe brauchen.“

Diese Aufarbeitung ist nicht allein Liebhardts Aufgabe. Ein Teil deckt bereits der interne, polizeisoziale Dienst ab. Es sei ein gutes Miteinander, sagt Liebhardt. Doch seine Position ist eine besondere: „Ich bin unabhängig, nicht Teil der Polizei. Nicht der Polizeipräsident ist mein Chef, sondern der Bischof. So kann ich ein kritisches Gegenüber sein.“

Zum Schweigen verpflichtet

Und nicht nur das: Der Dekan unterliegt dem Zeugnisverweigerungsrecht. „Ein zunehmendes Merkmal unserer Arbeit sind die Fälle, bei denen Polizisten selbst mit dem Gesetz in Konflikt geraten“, schildert der Dekan. „Auch die Polizei unterliegt dem Legalitätsprinzip, ist also an Recht und Gesetz gebunden“, holt Liebhardt aus. Es gebe für die Polizei, sobald sich Verdachtsmomente ergäben, den Strafverfolgungszwang. Auch wenn ein Polizist seinen Job mache im guten Glauben, richtig zu handeln, nach bestem Wissen und Gewissen und mit dem Vertrauen, von seinem Dienstherrn dabei geschützt zu sein, könne er sich plötzlich selbst mit Ermittlungen konfrontiert sehen.

„Oft geht es um Schusswaffengebrauch, in Notwehrsituationen zum Beispiel“, konkretisiert Liebhardt. Die Gesellschaft schaue besonders bei der Polizei ganz genau hin und erwarte eine Aufklärung solcher Fälle. „Der Polizist wird dann häufig aus seinem regulären Dienst genommen, gegen ihn wird ermittelt. Viele empfinden dies als eine Art Vorverurteilung, wenngleich es eine legitime Maßnahme ist, nicht der Strafe, sondern der Fürsorge.“

Viele Begleitungen dauern jahrelang

Es kratze dennoch an der Identität, am Selbstverständnis der Polizisten, „wenn sie ganz plötzlich Betroffene des Systems sind, einen Beschuldigtenstatus haben, sich einen Anwalt nehmen müssen“, beschreibt der Seelsorger. Viele dieser Kollegen betreue er über Jahre hinweg, weil sich Prozesse auch oft über Jahre hinzögen. „Das ist für die Polizisten ungeheuer belastend“, schildert er. Vielen sei er lange ein begleitender Gesprächspartner, „denn oft stellen sich dann noch Krankheiten seelischer Natur ein. Da ist ein neutraler Begleiter ein hohes Gut.“

Und natürlich werde auch er selbst immer wieder mit menschlichen Abgründen konfrontiert, wenn er beispielsweise Einsatzkräfte aus dem Kriminaldauerdienst betreue. „Die sind sehr gut geschult, der Umgang mit dem Tod gehört zu ihrer Professionalität.“ Und dennoch müsse darauf achtgegeben werden, dass die Leute nicht verbrennen. „Das Präsidium Reutlingen ist im Jahr mit 800 bis 900 Todesfällen konfrontiert, verteilt auf 30 Leute. Die Pro-Kopf-Belastung ist dann klar“, schildert Liebhardt.

„Uns muss man nichts erklären“

Und nicht zuletzt komme es auch bei der Polizei wie beim Rest der Gesellschaft zu Suiziden. „Ich bin da für die Kollegschaft, für die Dienstgruppen, die engsten Vertrauten und auch für die Familien. Das sind oft sehr lange Begleitprozesse“, fasst der Landespolizeidekan zusammen. Hilfreich sei dabei, „dass wir wissen, wie der Laden tickt, wir sind mittendrin, gehen täglich ein und aus, uns muss man nichts erklären“.

Wie verarbeitet ein Seelsorger diese Dinge, der es gewohnt ist, für andere da zu sein? „Ich leide oft sehr stark mit und kann die Emotionen gut nachempfinden“, erzählt er. Doch er selbst habe ebenfalls geistliche Begleitung und kollegiale Beratung. Und letztlich sei es die Beziehungsarbeit, der Umgang mit Menschen, auch mit denen, denen es gut geht, die ihm die Kraft für seine Arbeit geben. „Ich erlebe eine Wirksamkeit und auch eine große Dankbarkeit und empfinde diese besondere Art der Kollegialität mit einem anderen Feld als große Bereicherung. Das tut dann gut.“ So unterschiedlich die beruflichen Hintergründe von Seelsorger und Polizist auch sein mögen, offenbar eint sie am Ende doch eines: Die Liebe zum Beruf.

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